„Die Religion bot viel Halt“

Joachim Ziegler spricht im Interview mit der Frankfurter Rundschau über die

Unterschiede im alten und neuen Ober-Erlenbach. Für seine

Lokalgeschichts-Forschung wird er den Saalburgpreis erhalten.

 

Herr Ziegler, Sie erhalten den Saalburgpreis für Ihre Geschichtsschreibung

über Ober-Erlenbach. Was ist so interessant an diesem Ort?

Jeder Ort ist interessant. Und in Ober-Erlenbach wohne ich nun mal seit 23

Jahren. Damals sprach mich der Ortsvorsteher Hans Peter Schäfer an: „Du bist

doch Historiker. Zur Geschichte des Stadtteils ist fast nichts geschrieben. Hast

du nicht Interesse?“ Ich schaute nach und fand heraus, dass das Archiv seit

etwa 1500 gut erhalten ist. Das hat mich natürlich gereizt. Ober-Erlenbach ist

eine überschaubare Einheit. Das Dorf kam ja erst 1972 zu Bad Homburg.

 

Woran forschen Sie gerade?

In letzter Zeit erweiterte unser Verein Heimatstube das Museum in der Alten

Schule. Ich habe über die katholische Kirchengemeinde geschrieben. Jetzt

erarbeite ich gemeinsam mit Clemens Knobloch die Geschichte der

Gewerbetreibenden und der Gastwirtschaften. Vor hundert Jahren gab es hier

mindestens zehn Kneipen, heute kaum noch welche.

 

Dabei ist die Bevölkerung binnen hundert Jahren von 1000 auf fast 5000

Menschen gewachsen. Es gibt viele Zugezogene, die nur zum Schlafen im Ort sind und keinen Bezug dazu haben.

Das sagen sie einem auch ehrlich, wenn man sie anspricht. Die Lebensbezüge

der Menschen sind nicht mehr in einem Ort gebündelt, sondern spielen sich in

der ganzen Region ab. Das ist schon in Ordnung so. Auch wenn ich mir wünsche,

dass es hier mehr Arbeitsplätze und bessere Einkaufsmöglichkeiten gäbe.

 

Ihr Buch „Streifzüge durch die Dorfgeschichte“ schildert die Nachteile des

früheren Dorflebens. Da wurden freie Bauern lieber Leibeigene, um dem

Kriegsdienst zu entgehen. Patchworkfamilien, die es im 18. und 19. Jahrhundert auch schon gab, wurden bei der Obrigkeit denunziert. Und niemand durfte homosexuell sein.

In meinem Heimatort in Westfalen haben diese Leute noch in den 50er Jahren

die Zähne zusammengebissen, geheiratet und Kinder bekommen. Man hat sich in den

kleinen Orten gegenseitig beobachtet. Man war aufeinander angewiesen. Aber auch

pragmatisch. Die Kirchenbücher zeigen, dass es im 18. und 19. Jahrhundert

relativ viele uneheliche Kinder gab. Die jungen Mütter wurden oft von

verwitweten Bauern geheiratet, die die Kinder als eigene akzeptiert und zum

Teil sogar als Erben eingesetzt haben.

 

Was war die dramatischste Epoche von Ober-Erlenbach?

Von Brandschatzungen ist nichts überliefert. Für die Einwohner am

dramatischsten war wohl der Religionswechsel im 16. Jahrhundert. Weil die

Herrschaft es so wollte, waren die Ober-Erlenbacher eines Morgens plötzlich

alle evangelisch. Sie ließen ihre Beziehungen zum Mainzer Bischof spielen, bis

sie gut 40 Jahre später wieder katholisch sein durften.

 

Warum war ihnen das wichtig?

Die katholische Religion bot viel Halt. Da war alles hierarchisch, vom

lieben Gott über den Papst bis zum Dorfpfarrer, der vom Gutsherrn eingesetzt

wurde. Alles war gegliedert und überschaubar. Die Protestanten dagegen waren am

Schwimmen. Ihre Kirche befand sich ja noch im Aufbruch. Selbst heute suchen die

Menschen noch Halt. Notfalls bei Borussia Dortmund oder Lena.

 

Bietet das Dorfleben noch Halt?

Ein bisschen schon. Die Vereine sind hier offen für jeden Neuen. Und wenn

die Stadt den Oberhof kauft, kann er ein Zentrum für den Ort werden.

Interview: Klaus Nissen